Review: Eitt feigdaráratíggju í Leirvíkar søgu 1874-1883

Review by Norbert B. Vogt

Die an der Ostseite der Insel Eysturoy relativ geschützt gelegene Ortschaft Leirvík ist eine der ältesten Siedlungen der Färöer und wurde zur Landnahmezeit im 9. Jhdt. von wikingischen Siedler gegründet. In den vergangenen Jahrzehnten entdeckten und sicherten Archäologen im Rahmen von Grabungen die Reste mehrerer wikingischer Hofanlagen, deren bekannteste die im Ortsteil á Toftanesi, unweit der heutigen Tankstelle gelegene Gebäudegruppe ist, die baulich z.T. rekonstruiert wurde. Heute ist Leir-vík ein blühendes Gemeinwesen, das sehr vom Bau des Nordinseltunnels profitiert, der Leirvík und Klaksvík verbindet. Leirvík hat z.Zt. ca. 880 Einwohner und gehört mit Gøta zur vor einigen Jahren gegründeten Eysturkommuna.

Die Geschichte Leirvíks wurde in den vergangenen Jahren intensiv erforscht, die Ergebnisse in einer Reihe eindrucksvoller Werke vorgelegt. Genannt sei hier Martin Fjallsteins in den Jahren 2010 bis 2012 erschienene, vierbändige Leirvíkar søga, eine akribisch und mit stupendem Fleiß zusammen-getragene, äußerst materialreiche Ortschronik.

Der beste Kenner der Leirvíker Frühgeschichte ist der dänische Archäologe und Historiker Steffen Stummann Hansen, der seit vielen Jahren auf den Färöern lebt. Stummann Hansen, der am Tórshavner Nationalmuseum als Archäologe arbeitet und in Leirvík wohnt, hat sich nicht nur durch eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten zu den Ausgrabungen der wikingerzeitlichen Höfe seines Wohnortes und dessen Christianisierung, sondern auch durch populärwissenschaftlich gehaltene Studien Verdienste um die Erforschung der frühen und neueren Geschichte Leirvíks erworben.

2011 veröffentlichte Stummann Hansen eine weitere Studie zur Geschichte Leirvíks. In Eitt feig-daráratíggju í Leirvíkar søgu 1874-1883 [Ein katastrophales Jahrzehnt in der Geschichte Leirvíks 1874-1883] erzählt Stummann Hansen von einer tragische Phase in der Geschichte Leirvíks, in der bei vier Bootsunglücken und einem Vermisstenfall in nur zehn Jahren 17 Menschen ums Leben kamen. In einer Phase der Entwicklung Leirvíks, in der der Ort rund 200 Einwohner in 30 Haushalten zählte, war dieser Verlust ein echter Aderlass und wirft überdies ein Schlaglicht auf die ganz realen und all-täglichen Gefahren des Lebens auf den Färöern in dieser Zeit.

Das erste Kapitel des Buches liefert sozusagen das Hintergrundwissen für die Würdigung der Geschehnisse der Jahre 1874-1883. Stummann Hansen zeichnet in seiner breit gefächerten Einleitung ein lebendiges, mit zahlreichen zeitgenössischen Fotografien schön und nützlich illustriertes Bild der damaligen Situation Leirvíks, berichtet über Bewohner, Haushalte, Gebäude des Dorfes, über Segen und Gefahren des Leirvíksfjords, über Geschäfte und Handelsniederlassungen in Leirvík und Klaksvík und über die seinerzeitige Obrigkeit (Amtmann, Landvogt, Landrichter, Bezirksrichter).

Die folgenden Kapitel sind den fünf Unglücken gewidmet, die der Verfasser in den Fokus seines Buches rückte. Kap. 2, Á veg inn av Norðhavinum [Auf dem Weg ins Nordmeer], schildert das erste der fünf fatalen Ereignisse, das Bootsunglück vom 24. März 1874. Um 3 Uhr morgens waren sechs Männer aus Leirvík mit dem Sechsmannfahrer Hugmóðin von Toftanes aus in See gestochen, um nördlich der Färöer zu fischen. Die Männer im Alter von 17 bis 43 Jahren kehrten nicht mehr zurück und wurden auch nie wiedergefunden – man vermutete, dass sie in einem Sturm ums Leben ge-kommen waren. Vier der Männer waren verheiratet und hinterließen Ehefrauen und kleine Kinder.

Kap. 3, Tær báðar horvnu genturnar [Die beiden verschwundenen Mädchen] erzählt eine tragische Geschichte, die über Leirvík hinaus bekannt wurde und auch in die färöische Literatur einging. Am Vormittag des 18. Oktober 1874 machten sich die 23jährige Maren Susanne Hansen und die 15jährige Henriette Sophie Toftanæs auf den Weg nach Eiði, um dort Verwandte zu besuchen. Da das Wetter sich einige Stunden, nachdem sie Leirvík verlassen hatte, verschlechterte, machte man sich zwar Sorgen um die beiden, ging aber davon aus, dass sie ihr Ziel sicher erreichen würden. Erst gegen Ende des Monats stand fest, dass dies nicht der Fall war. Die beiden jungen Frauen waren spurlos ver-schwunden und konnten trotz intensiver Suche nie gefunden werden. Die Mutter von Henriette Toftanæs hatte das Schicksal nun gleich zweimal hart getroffen, da ihr Mann Joen Thomasen zu den Männern gehörte, die bei dem Bootsunglück im März 1874 ums Leben gekommen waren. Bis heute konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, wo und auf welche Weise die beiden Frauen ums Leben kamen, da nicht bekannt ist, welchen Weg sie genommen hatten und ihre Leichen nie gefunden wurden. 1931 veröffentlichte der Königsbauer und Løgtingsabgeordnete Andreas Weihe in der Zeitschrift Varðin eine Erzählung u.d.T. Tær horvnu, die auf dem Verschwinden der beiden Frauen basierte und das Geschehen wieder aufleben ließ. Weihe brachte indes einen neuen Aspekt ins Spiel. In seiner Erzählung tauchen zwei shetländische Fischereischiffe auf, die zu der Zeit, als die beiden Frauen auf ihrem Weg von Leirvík nach Eiði in Richtung Fuglafjørður liefen, in der Bucht Pollurin fischten und deren Besatzung Weihe mit dem Verschwinden des Mädchens in Verbindung brachte. Man geht indes heute davon aus, dass die Frauen bei schlechtem Wetter und stark eingeschränkter Sicht vom Wege abkamen, ins Meer stürzten und von der Strömung hinausgetragen wurden. Eivind Weihes Erzählung wurde übrigens 1943 von Ernst Krenn ins Deutsche übersetzt und erschien 1944 u.d.T. Die Verschollenen in der Zeitschrift Wörter und Sachen.

Die folgenden drei Kapitel des Buches befassen sich mit drei Bootsunglücken der Jahre 1877 bis 1892. In 1877 – Ein bátsvanlukka uttanfyri lendingina í Leirvík [1877 – Ein Bootsunglück vor dem Anleger in Leirvík] erzählt Stummann Hansen von dem traurigen Schicksal des Leirvíker Königs-bauern Joen Joensen, der am Nachmittag des 21. April 1877 mit zwei Rudergenossen an Bord eines Viermannfahrers nach Klaksvík fuhr, um dort Besorgungen zu erledigen. Während der Rückfahrt nach Leirvík verschlechterten sich Wetter und Sicht so stark, dass das Boot etwa 300 m vor der Anlege-stelle kenterte. Während sich die beiden Mitruderer retten konnten, ertrank Joensen in den aufge-wühlten Fluten.

In 1882 – Eitt skipbrot undir Íslandi [1882 – Ein Schiffbruch vor Island] widmet sich der Verfasser einem Vorfall, bei dem zwei färöische Fischkutter vor der Küste Islands in Seenot gerieten. Am 25. Mai 1882 wurden die Schiffe Løvenørn und Bella aus Klaksvík bzw. Trongisvágur vor der Nord-westküste Islands von einem heftigen Sturm erfasst, vor dem sie sich bei heftigem Eistreiben in den Patreksfjörður retten wollten. Dort wurden sie jedoch durch Wellenschlag und Wind an Land ge-drückt, was sie letztlich zum Kentern brachte. Bei dem Unglück starben 11 Besatzungsmitglieder der Løvenørn und 20 Männer der Bella. Die Ertrunkenen wurden auf  dem Friedhof von Breiðavík zu letzten Ruhe gebettet, ihre Gräber sind bis heute erhalten. Unter den verunglückten Besatzungsmit-gliedern der Løvenørn befanden sich vier Seeleute aus Leirvík im Alter von 17 bis 24 Jahren.

Das Kapitel 1883 – Úr Klaksvík til Leirvíkar [1883 – Von Klaksvík nach Leirvík] ist einer Havarie gewidmet, die am 22. Mai 1883 zum Tode von vier Leirvíker Männer führte. An diesem Tag waren zwei Leirvíker Boote auf der Rückfahrt von Klaksvík nach Leirvík. Im Leirvíksfjord gerieten sie aufgrund widriger Strömungs- und Wetterverhältnisse in Seenot. Eines der beiden Boote kenterte, wobei die vierköpfige Besatzung ertrank. Es handelte sich um den 47jährigen Absalon Jacobsen, seine beiden Söhne Jacob und Joen und den 30jährigen Joen Høgnesen.

Steffen Stummann Hansen wertete für seine detailreichen und lebensvollen Schilderungen eine Vielzahl von Quellen aus, die er z.T. im Originaltext zitiert, etwa die offiziellen Berichte der zustän-digen Bezirksrichter (sýslumaður), Untersuchungsprotokolle sowie Berichte in der Zeitung Dimma-lætting. Seine Ausführungen beschränken sich nicht auf die bloße Schilderung der Geschehnisse, in jedem Fall versucht der Verfasser, die Ursachen und Folgen der jeweiligen Unglücke zu ergründen und alle denkbaren Aspekte des Falles zu erfassen. Insgesamt entsteht hier ein plastisches, lebendiges Bild der prekären Lebensumstände färöischer Ruderer und Seeleute, die stets in der Gefahr schwebten, in den unruhigen und unberechenbaren Gewässern des Nordatlantiks umzukommen.

Im 7. Kapitel seines Buches, Eitt feigdaráratíggju í Leirvíkar søgu, befasst sich Stummann Hansen zunächst mit den zahlreichen Boots- und Schiffsunglücken, in die Männer aus Leirvík im Laufe der Zeit verwickelt waren und setzt sich anschließend mit den Folgen der fünf Unglücke für die Hinter-bliebenen in Leirvík auseinander. Er geht dabei auch auf die Möglichkeiten der öffentlichen Fürsorge ein, die etwa aus dem 1832 gegründeten Fonden for Forulykkedes Efterladte [Fonds für die Hinter-bliebenen der Verunglückten] und aus dem 1883, unter dem frischen Eindruck des Bootsunglücks im Leirvíksfjord, ins Leben gerufenen Gjensidige Forsikringsforening for Forulykkedes Efterladte på Færøerne [Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit für die Hinterbliebenen von Verunglückten auf den Färöern] geleistet wurden.

Im Mittelpunkt des 8. Kapitels, “So frelstir teir finna at støð og í havn” [etwa: So finden sie, erlöst, zum Anlegeplatz und in den Hafen], steht das am 7. September 1980 eingeweihte Denkmal für die auf See gebliebenen Leirvíkinger. Das von  Fridtjof Joensen geschaffene Mahnmal steht inmitten einer ausgedehnten Grünfläche am Ortsrand. Aus den am Denkmal angebrachten Gedenkplaketten geht hervor, dass allein Leirvík im Zeitraum 1874 bis 2000 63 Männer auf See verlor. Der „nasse Tod“ war für die Fischer- und Seefahrernation der Färöer ein ebenso trauriges wie alltägliches Phänomen und unterstreicht einmal mehr, wie gefahrvoll und hart das Leben der Färinger in den vergangenen Jahr-hunderten war. Die in falsch verstandener Nostalgie so oft verklärten guten alten Zeiten, sie waren meist alles andere als gut.

Steffen Stummann Hansens Buch über ein tragisches Kapitel in der Geschichte Leirvíks ist gut recherchiert und packend geschrieben. Die gelungene Mischung aus Quellentexten, lebendigen Schilderungen und klug abgewogenen Erklärungsversuchen für die Ursachen der einzelnen Unglücke, die Beigabe zahlreicher historischer Fotografien, von Dokumenten und Kartenskizzen macht das Buch zu einer lehrreichen Lektüre.

Norbert B. Vogt in Tjaldur. Mitteilungsblatt des Deutsch-Färöischen Freundeskreise e. V. Týskt-Føroyskt Vinafelag. Nr. 50, p. 142-144. Mülheim/Ruhr 2013.